Vergebung – Der steinige Weg der Freiheit
Emotionen sind schwer zu begreifen. Sie sind einfach da, schlummern in uns und reagieren auf Situationen. Wir können sie leiten, sie beeinflussen oder durch andere Menschen beeinflussen lassen. Wir können sie aber auch ignorieren oder durch andere ersetzen. Besonders, wenn wir verletzt werden, wenn uns Unrecht widerfährt, begreifen wir Emotionen nicht vollkommen. Wir reagieren auf den Schmerz und versuchen, ihn durch Groll oder gar Hass zu ändern. Bringt das keine Erleichterung, fangen wir an, ihn zu ignorieren oder durch andere Emotionen zu ersetzen. Aber was passiert, ist das, was mit jeder Wunde passiert: Sie entzündet sich, heilt nicht. „Zeit heilt alle Wunden“ ist ein altes Sprichwort, aber leider kann die Zeit keine Wunden heilen, sondern sie nur wie ein Pflaster abdecken, aber durch die Pflaster, die laufend mehr werden, wird die entzündete Wunde nur tiefer, nicht besser. Vergebung ist das Zaubermittel, das die Wunde heilt.
„Vergebung verändert nicht die Vergangenheit, aber sie bereichert die Zukunft.“
(Les Brown)
Vergebung
Doch Vergebung ist nicht einfach. Es fällt uns leichter, das Unrecht, das uns widerfahren ist, zu vergraben, es zu vergessen und die Menschen, die uns dieses Unrecht angetan haben, zu hassen. Wir finden oft Genugtuung darin, Rachepläne gegen sie zu schmieden, aber das lässt unsere Wunde nicht heilen, sondern verschmutzt sie. Die Zeit vergeht und unsere Gedanken bleiben beim Groll. Solange wir aber an diesen Gedanken festhalten, werden wir niemals frei sein, nie offen sein für alles, was noch kommt, weil es immer etwas geben wird, das uns in der Vergangenheit hält. Und das sind die alten Wunden, die nicht heilen.
Es ist wichtig, diese Wunden, diesen Schmerz anzuerkennen, ihn wahrzunehmen und die Wunde bewusst zu sehen. Sie dann zu pflegen und so den Heilungsprozess beginnen zu lassen. Erst wenn wir uns selbst gestatten, wahre Emotionen zu zeigen, den Schmerz zu akzeptieren und anzunehmen, dass wir verletzt wurden, sind wir bereit, anderen Menschen zu vergeben. Man vergibt nicht, weil andere danach fragen, man vergibt, weil man sich selbst vom Schmerz lösen möchte, um in eine unbefangene Zukunft zu blicken.
Martin Luther King sagte:
„Vergebung ist keine einmalige Sache, Vergebung ist ein Lebensstil.“
Wir müssen lernen, zu vergeben. Vergebung heißt nicht, dass man wieder verletzt wird, dass andere einen Freifahrtsschein bekommen, uns neuerlich zu verletzen, sondern sie heißt, sich selbst die Freiheit zu geben. Wer vergibt, wird sehen, dass Vergebung mit Respekt gezollt wird und nicht neuerlichen Schmerz nach sich zieht. Vergebung bringt Freiheit, ein Loslassen, Energie für eine Zukunft, die nicht durch einen schweren Verband belastet wird.
Vergebung lernen – Übungen:
Setzen Sie sich an einen ruhigen Platz. Nehmen Sie Stift und Zettel zur Hand und schreiben Sie alles auf, was Ihnen an Ungerechtigkeiten, Ärgernissen und Schmerz widerfahren ist. Erinnern Sie sich bewusst daran, auch wenn es wehtut! Wenn Sie fertig sind, schreiben Sie daneben alle Personen auf, die daran beteiligt waren. Selten ist nur eine Person schuld an Ihren Gefühlen, das denken Sie nur, weil unser Gehirn dazu neigt, einen Sündenbock zu suchen. Schreiben Sie alle Personen listenartig auf. Wenn Sie fertig sind, lehnen Sie sich zurück, atmen Sie einmal tief durch und gehen Sie dann jede Person auf der Liste nacheinander durch. Legen Sie den Finger auf den Namen, rufen Sie die Person in Ihr Gedächtnis und sagen Sie laut oder nur zu sich: „Ich vergebe dir!“ Wiederholen Sie diesen Satz so lange, bis Sie sich selbst glauben. Lesen Sie, wenn Sie mit allen Personen fertig sind, Ihre Ärgernisse noch einmal durch. Ärgern Sie sich immer noch, haben Sie nicht vergeben. Wiederholen Sie die Schritte und vergeben Sie.
Eine weitere wichtige Übung ist, auch sich selbst zu vergeben
Schreiben Sie auf einen weiteren Zettel alles, womit Sie andere verletzt, verärgert oder ungerecht behandelt haben. Entschuldigen Sie sich bei den Personen. Entscheiden Sie selbst, ob Sie das persönlich machen möchten oder nur in Gedanken. Waren die Vorfälle besonders schlimm, sollten Sie sich persönlich entschuldigen, aber Sie werden mit Ihrem Bauchgefühl merken, wann eine persönliche Entschuldigung notwendig ist und wann eine im Geiste reicht. Dann vergeben Sie sich selbst. „Ich vergebe mir!“ Wiederholen Sie diesen Satz, bis Sie sich selbst glauben. Lassen Sie Reue zu und nehmen Sie diese an.
Wer lieber eine andere Übung machen möchte, kann diese versuchen:
Machen Sie es sich bequem, setzen Sie sich in ruhiger Atmosphäre hin. Schließen Sie die Augen und atmen Sie dabei tief ein. Stellen Sie sich nun die Person, die Sie ärgert, vor Ihrem inneren Auge vor. Schauen Sie die Person an. Auch diese Person sehnt sich nach Liebe. Erkennen Sie das an. Sagen Sie der Person: „Ich bin rein und unschuldig, du bist reiner Geist und frei von dem, was ich auf dich projiziert habe.“ Für ein paar Minuten bleiben Sie in dieser ruhigen Situation und wiederholen den Satz.
Eine letzte Übung stammt aus der tibetischen Meditation
Setzen Sie sich in den Lotussitz, sorgen Sie für eine ruhige, entspannte Atmosphäre. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich eine Person vor, die sehr gerne haben. Sagen Sie der Person: „Ich wünsche dir Glück.“ Das versetzt Sie in eine positive Grundhaltung. Lenken Sie nun Ihre Gedanken auf eine Person, die Sie verletzt haben, entschuldigen Sie sich bei dieser Person und stellen Sie sich vor, wie die Entschuldigung mit Freude angenommen wird. Gehen Sie in Ihren Gedanken weiter zu der Person, die Sie verletzt hat, und rufen Sie sich das freudige Gefühl von der ersten Person wieder ins Gedächtnis. Nun sagen Sie der Person, dass Sie ihr vergeben. Stellen Sie sich vor, wie die Person sich darüber freut und dankbar ist. Wiederholen Sie die Vergebung so lange, bis sie nicht mehr künstlich in Ihren Ohren klingt. Lösen Sie sich dann langsam aus Ihren Gedanken, indem Sie tief einatmen. Beim nächsten langen Ausatmen lösen Sie sich vom Groll, der sich auf Ihren Geist gelegt hat.
Vergebung braucht Mut, Vergebung braucht Übung, aber Vergebung ebnet auch den Weg in eine befreite Zukunft. Nur wer vergibt, wird wahre Freiheit erfahren, denn dann gibt es nichts mehr, das in der Vergangenheit festhält, und man ist bereit, sich der Zukunft und ihren Plänen hinzugeben.
Text: VITA-Redakteurin Antonia Pichler
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